Vor der Nordküste Schottlands, in etwa auf dem halben Weg zwischen Norwegen und den Shetland-Inseln, lag das Öl- und Gasfeld «Brent». Ab 1976 wurde auf dem fünf Jahre zuvor entdeckten Areal der wichtigste Energieträger gefördert. 1982 erreichte die vom Ölmulti Shell gemeinsam mit Esso betriebene Quelle ihren Höhepunkt: Pro Tag wurde damals mehr als eine halbe Mio. Barrel Öl-Äquivalent hochgepumpt. Mittlerweile ist das Öl- und Gasfeld Geschichte, im Juli 2021 wurde die Produktion eingestellt. Der Name «Brent» ist geblieben. Als Referenz für in der britischen und norwegischen Nordsee gewonnenes Öl ist er von den Rohstoffmärkten nicht wegzudenken. An der Intercontinental Exchange (ICE) werden Terminkontrakte und Optionen auf Brent gehandelt. Im vergangenen Jahr gingen an der Warenterminbörse annähernd 270 Mio. Brent-Futures um – so viele wie nie zuvor. Innert 12 Jahren hatte sich das Handelsvolumen damit gut verdoppelt (siehe Grafik).
Als eine Stärke der Nordseegattung gilt die Gewinnung auf hoher See. Dadurch kann dieser leichte (light) und schwefelarme (sweet) Rohstoff nicht nur über Pipelines, sondern auch mit Hilfe von Tankschiffen in alle Ecken der Welt transportiert werden. Das US-Pendant Western Texas Intermediate (WTI) wird zwar auch vor der US-Küste gewonnen, doch in den vergangenen Jahren hat das aus Schiefergestein hervorgeholte Öl mehr und mehr an Bedeutung gewonnen. Für die jüngste Preisentwicklung der beiden wichtigsten Referenzkontrakte sind weder die Situation in der Nordsee noch die Gegebenheiten in den texanischen Schiefer-Basins oder am Golf von Mexiko hauptverantwortlich. Vielmehr bestimmt ein Mix aus Geopolitik und Konjunktur das Geschehen an den verschiedenen Handelsplätzen.
Seit der Attacke der Hamas auf Israel schürt die Lage im Nahen Osten Sorgen vor möglichen Versorgungsengpässen. Nach den Angriffen der Huthi auf Schiffe im Roten Meer und den Gegenschlägen der USA und Grossbritanniens auf Stellungen der Rebellen im Jemen nahmen die Spannungen weiter zu. Als Schreckgespenst gilt an den Ölmärkten eine Blockade der Strasse von Hormus durch den Iran. Die Meerenge verbindet den Persischen Golf mit dem Golf von Oman. Täglich passiert rund ein Fünftel der globalen Ölproduktion dieses logistische «Nadelöhr». Es lässt sich schwer sagen, ob und inwieweit die Märkte für solche Szenarien bereits eine Risikoprämie in den Ölnotierungen einpreisen. Ein echter Preisschock ist bisher zwar ausgeblieben, gleichwohl versucht Brent gerade, dem kurzfristigen Abwärtstrend zu entkommen.
Fundamental ist die makroökonomische Grosswetterlage für die Perspektiven des Rohstoffs von zentraler Bedeutung. Mit der Konjunktur schwächelt vielerorts der Energiebedarf. Bei Öl ist die Nachfrage im vergangenen Jahr nicht so stark nach oben gegangen, wie ursprünglich erwartet. Dadurch war der Weltmarkt ausreichend versorgt, obwohl die in der Gruppe der OPEC+ zusammengeschlossenen Förderländer ihren Ausstoss gekürzt haben. In gewisser Weise wurde die Strategie des Kartells durch eine rekordhohe Produktion in den USA konterkariert. Geht es nach der U.S. Energy Information Administration (EIA), dann könnte der wichtigste Energieträger kurzfristig dennoch knapp werden. In ihrem aktuellen Ausblick rechnet sie für das 1. Quartal 2024 mit einer globalen Ölnachfrage von erstmals mehr als 102 Mio. Barrel pro Tag. Auf der Produktionsseite erwartet die Behörde ein um rund 800'000 Fass geringeres Volumen. Bereits ab April sieht die EIA wieder einen in etwa ausgeglichenen Weltmarkt. Dabei soll es bis in das Jahr 2025 hinein bleiben (siehe Grafik).
In der Vergangenheit hat sich immer wieder gezeigt, dass solche Prognosen mit Vorsicht zu geniessen sind. Vor allem die skizzierte geopolitische Lage könnte der EIA schnell einen Strich durch die Rechnung machen. Gleiches würde gelten, falls die OPEC+-Länder ihre Kapazitäten noch einmal zurückfahren. Ganz zu schweigen von den USA. Mit den näher rückenden Präsidentschaftswahlen könnten die Rufe nach einem raschen Wiederaufbau der strategischen Ölreserven lauter werden. Sie waren 2023 auf ein 40-Jahres-Tief geschrumpft. Zur Vielfalt an möglichen Einflussfaktoren passt die Spreizung bei den Preisprognosen. Am 10. Januar hat sich Reuters bei 30 Research-Häusern umgehört. Für 2024 erstreckt sich die Spanne der erwarteten durchschnittlichen Brent-Notierung von USD 74 bis USD 93. Den Mittelwert ihrer Umfrage taxiert die Nachrichtenagentur auf USD 82.50. Gegenüber dem aktuellen Niveau bedeutet das einen Aufschlag von knapp 5%.
Quelle: Intercontinental Exchange (ICE); Stand: Januar 2024. Historische Daten sind kein verlässlicher Indikator für zukünftige Entwicklungen.
Quelle: U.S. Energy Information Administration, Short-Term Energy Outlook, Januar 2024.e = erwartet