Egal, ob Vermögensverwalter, Analyst, Stratege oder privater Investor – für viele Börsianer dürften die Sommerferien in diesem Jahr gerade recht kommen. Es wird Zeit, etwas Abstand zu gewinnen und für ein paar Tage nicht über Inflation, Zinswende und Geopolitik nachzudenken. Diese drei Themenfelder haben das erste Semester 2022 dominiert und die jahrelange Aufwärtsfahrt an den Börsen jäh ausgebremst. Mittlerweile befindet sich die Anlageklasse Aktien in einem «offiziellen» Bärenmarkt. Das gilt selbst für den breit diversifizierten MSCI World Index. Die mit mehr als 1'500 Unternehmen bestückte Benchmark notierte am 12. Mai mehr als ein Fünftel unter dem noch Anfang Jahr erreichten Allzeithoch. Damit war der Bärenmarkt per definitionem eingeläutet. In der Schweiz sowie an der Wall Street sackten SMI respektive S&P 500 im Juni unter diese Schwelle.
Wenig später verabschiedeten sich die unterschiedlichen Börsenplätze mit tiefroten Vorzeichen aus dem ersten Semester (siehe Grafik). Besonders stark kamen die Technologieaktien unter die Räder. Der mit dem «Who‘s who» der US-IT-Industrie bestückte Nasdaq-100 gab von Januar bis Juni 2022 um annähernd 30% nach, was zeigt, dass die Bremsfaktoren der vergangenen Monate auf die Technologiebranche besonders stark durchschlagen. Dazu zählen die in Folge der steigenden Renditen erschwerten Finanzierungsbedingungen genauso wie die mit der hohen Inflation einhergehenden Sorgen vor einer schwindenden Kauflust der Konsumenten, ganz zu schweigen von den nach wie vor knappen Bauteilen und allgemeinen Logistikproblemen. Der Krieg in der Ukraine hat diese Problematik zusammen mit den neuerlichen Corona-Lockdowns in China noch einmal verschärft.
Inflation, Zinswende, Geopolitik – diese drei Faktoren dürften die Anleger auch nach den Ferien weiter beschäftigen, wobei vor allem die beiden erstgenannten Punkte in einem wechselseitigen Verhältnis stehen. Anfang Jahr waren viele Experten noch davon ausgegangen, dass der Preisauftrieb nachlassen würde. Sie wurden eines Besseren belehrt. In Europa hat die Inflation im Juni ein weiteres Mal angezogen. Der Konsumentenpreisindex für die Eurozone übertraf den Vorjahresmonat um rekordhohe 8.6%, nach 8.1% im Mai. Für die Schweiz meldete das Bundesamt für Statistik (BFS) beim Landesindex der Konsumentenpreise für Juni eine Steigerung von 3.4% gegenüber dem Vorjahreswert. Der aktuelle Consumer Price Index (CPI) für die USA wurde am 13. Juli (nach Redaktionsschluss dieser Publikation) veröffentlicht. Laut Reuters waren Ökonomen im Schnitt davon ausgegangen, dass die Konsumentenpreise in den Staaten relativ zum Juni 2021 um 8.7% angezogen haben. Zum Vergleich: Im Mai betrug die Inflationsrate 8.6%.
Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die Notenbanken vehement die Zügel straffen. Deutlich zum Ausdruck kommt die laufende Zinswende in den Obligationenrenditen. Der 10-jährige US-Treasury wirft aktuell 3.06% ab. Das sind rund 156 Basispunkte mehr als Ende 2021. Derweil haben die Renditen von Eidgenossenschaft und deutscher Bundesanleihe das negative Terrain dynamisch verlassen. Selbst Japan muss für die 10-jährigen Schuldtitel neuerdings wieder einen nennenswerten Zins bezahlen (siehe Grafik 2). Auf die Notenbanken wartet in den kommenden Monaten eine echte Herkulesaufgabe: Sie müssen einerseits das Inflationsgespenst zurückdrängen. Gleichzeitig gilt es, möglichst konjunkturschonend an der Zinsschraube zu drehen. Fed-Chef Jerome Powell hat zuletzt deutlich gemacht, dass die USA keinesfalls in ein «höheres Inflationsregime» abgleiten dürften. Um dieses Ziel zu erreichen, wäre die Notenbank sogar bereit, die Zinsen in einem wachstumsgefährdenden Ausmass zu erhöhen.
Neben Geld- und Geopolitik spielen die Unternehmensgewinne für die Börse eine wesentliche Rolle. Vor allem an der Wall Street rechnen Analysten nach wie vor mit deutlich steigenden Profiten. Konkret liegt die für den S&P 500 2022 erwartete Gewinnsumme um gut ein Zehntel über dem Vorjahresniveau. Ab sofort kommt der Konsens auf den Prüfstand, die Unternehmen publizieren ihre Quartalszahlen. Die «Earnings Season» dürfte viele Einblicke dahingehend geben, wie die Konzerne mit dem aktuellen Umfeld zurechtkommen und ihre Geschäftsperspektiven einschätzen. Alles in allem stehen die Börsen also sprichwörtlich am Scheideweg. Setzt sich die Inflation weiter fest und trübt sich zudem der Gewinnausblick ein, könnten die Bären auch im zweiten Halbjahr das Zepter in der Hand halten. Vielleicht kann es daher nicht schaden, das Depot abzusichern oder die eine oder andere Short-Position zu implementieren. Bereits das Abschalten in den Ferien dürfte damit leichter fallen.