Ende September ist beim Verlag Scheidegger & Spiess «Die Schweizerische Nationalbank in Zürich, das Gebäude der Gebrüder Pfister 1922-2022» erschienen. Gerade für Architektur- und Geschichtsfans könnte sich die Lektüre dieser Publikation lohnen. Symbolisch betrachtet steht die SNB 100 Jahre nach der Eröffnung ihres Hauptgebäudes in der Limmatstadt wieder vor einer Grossbaustelle. Das Direktorium ist so stark gefordert wie lange nicht, wenn es darum geht, das vorrangige Ziel der SNB zu erreichen. Sie muss laut ihren Statuten die Preisstabilität gewährleisten und darf dabei die Konjunktur nicht aus dem Blick verlieren. Zwar treibt der starke Anstieg der Energie- und Rohstoffnotierungen die Teuerung in der Schweiz weniger stark an als in anderen Ländern und Regionen. Gleichwohl hat der Landesindex der Konsumentenpreise das Vorjahresniveau im September 2022 um 3.3% übertroffen. Die Inflation bewegt sich damit deutlich über dem von der SNB angestrebten Niveau von weniger als 2%. Laut der aktuellen Prognose wird es dabei vorerst bleiben (siehe Grafik).
Entsprechend vehement stemmt sich die Nationalbank gegen diese Entwicklung. Im September beendete das Direktorium die mehr als siebenjährige Phase der Negativzinsen. «Wir haben beschlossen, die Geldpolitik weiter zu straffen und den SNB-Leitzins um 0.75 Prozentpunkte auf 0.5% zu erhöhen», brachte SNB-Präsident Thomas Jordan den jüngsten Beschluss auf den Punkt. Durch die geldpolitische Straffung möchte er ein Übergreifen der Inflation auf bisher weniger stark betroffene Waren und Dienstleistungen verhindern. «Es ist nicht auszuschliessen, dass weitere Zinserhöhungen nötig sein werden, um die Preisstabilität in der mittleren Frist zu gewährleisten», machte Jordan deutlich. Einen Tag vor der jüngsten geldpolitischen Lagebeurteilung durch die SNB hatte die US-Notenbank ein weiteres Mal an der Zinsschraube gedreht. Ihr Offenmarktausschuss erhöhte die Federal Funds Target Rate zum dritten Mal nacheinander um 75 Basispunkte auf die neue Spanne von 3.00% bis 3.25%.
Obwohl sich der US-Leitsatz damit auf dem höchsten Niveau seit Anfang 2008 befindet, dürfte der Straffungszyklus weitergehen. «Meine Kollegen und ich sind fest entschlossen, die Inflation wieder auf unser 2%-Ziel zu senken», erklärte Fed-Präsident Jerome Powell. Die Märkte nehmen diese Ansage ernst: Das CME Fed Watch Tool zeigt eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 50% dafür, dass die US-Notenbank an der Sitzung Anfang November weitere 75 Basispunkte auf die Target Rate draufpackt. An dem rigorosen Kurs hält Jerome Powell fest, obwohl die grösste Volkswirtschaft der Welt an Schwung verliert. Für 2022 rechnet die Fed in den aktuellen Projektionen nur noch mit einem Wachstum von 0.2%. Vor der Sommerpause hatte die Notenbank noch eine Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 1.7% auf dem Zettel.
Die SNB musste an ihren Prognosen ebenfalls den Rotstift ansetzen. «Wir rechnen für dieses Jahr mit einem BIP-Wachstum von rund 2%. Das ist etwa ein halber Prozentpunkt tiefer als bei der letzten Lagebeurteilung», sagte Thomas Jordan. Gleichzeitig verwies er auf die hohe Prognoseunsicherheit. «Ein globaler Konjunkturabschwung, eine Zuspitzung der Gasknappheit in Europa sowie eine Strommangellage in der Schweiz stellen die grössten Risiken dar», erläuterte der SNB-Präsident. Eine ähnliche Einschätzung hatte die Expertengruppe des Bundes kurz zuvor abgegeben. Sie reduzierte ihre Konjunkturprognose für 2022 ebenfalls auf 2%. Für das kommende Jahr gehen die Ökonomen nur noch von einem Wachstum von 1.1% aus (siehe Grafik). Im Juni hatten sie noch mit einer Steigerung der Wirtschaftsleistung um 1.9% gerechnet. Die Aktienmärkte reagieren stark auf den Mix aus Konjunkturabschwächung und steigenden Zinsen. Beispielsweise stand für den SMI nach den ersten drei Quartalen 2022 ein Minus von gut einem Fünftel zu Buche. Wenn es eine positive Investment-Implikation aus dem bisherigen Jahresverlauf gibt, dann ist es das Comeback der Zinsen. Wo lange Zeit nicht viel zu holen war, bieten sich jetzt wieder Möglichkeiten – das gilt auch und gerade im Bereich der strukturierten Produkte.
e=erwartet (Prognose Expertengruppe); Quelle: Bundesamt für Statistik, Staatssekretariat für Wirtschaft; Stand: 20.09.2022 Historische Daten sind kein verlässlicher Indikator für zukünftige Entwicklungen.