Wirecard: Absturz im Rekordtempo
An Dramatik hat es dem deutschen Aktienmarkt im ersten Semester des Börsenjahres 2020 sicherlich nicht gefehlt. Die Corona-Pandemie sorgte beim DAX wie bei den anderen internationalen Benchmarks für ein lange nicht gesehenes Auf und Ab. Als wäre das nicht genug, erschütterte kurz vor der Jahresmitte ein schwerer Bilanzskandal den Finanzplatz Deutschland. Nachdem der Zahlungsabwickler Wirecard am 18. Juni eingeräumt hatte, dass Treuhandgelder im Volumen von EUR Mrd. 1.9 oder einem Viertel der Konzernbilanzsumme nicht auffindbar seien, überschlugen sich die Ereignisse: CEO Markus Braun trat zurück und wurde später wegen des Verdachts der Bilanzfälschung und der Marktmanipulation sogar vorübergehend festgenommen. Mittlerweile ist Wirecard insolvent. Innert einer Woche hat sich der Börsenwert der seit September 2018 zum DAX zählenden und seit längerem dem Vorwurf der Manipulation ausgesetzten Gesellschaft pulverisiert – Wirecard brach um 97% ein.
Herzkammer der Fintech-Bewegung
Der Skandal wirft schwere Schatten auf die deutsche Finanzaufsicht BaFin und auf EY, den Wirtschaftsprüfer des Unternehmens. Derweil geriet die Konkurrenz des abgestürzten Unternehmens zunächst nicht in Sippenhaft. Im Gegenteil: Die Aktien anderer Zahlungsabwickler setzten ihren Höhenflug Ende Juni fort. Ihnen könnten nun sogar Zusatzaufträge winken, falls sich die Kunden von Wirecard abwenden. Die Bayern wickeln die Zahlungsströme für prominente Unternehmen wie beispielsweise die Airline KLM, das Möbelhaus Ikea oder den Detailhändler Aldi-Süd ab. So oder so gilt Digital Payment als ein Wachstumsmarkt. Sei es beim Online-Shopping oder via Smartphone im Handel am so genannten Point of Sale (POS) – rund um den Globus begleichen immer mehr Konsumenten ihre Einkäufe digital. Laut Statista betrug das weltweite Transaktionsvolumen im vergangenen Jahr knapp USD Bio. 3.9. «Das Segment Digital Payments ist der mit Abstand grösste Teilbereich des gesamten Fintech-Marktes», stellt Statista-Analystin Sofia Zavialova fest.
Intakte Wachstumschancen
Bis 2024 traut das Marktforschungsportal der digitalen Zahlungsabwicklung ein durchschnittliches Wachstum von jährlich 16.5% zu. Behalten die Experten Recht, würde das Volumen dann bei mehr als USD Bio. 8 liegen (siehe Grafik). Über 70% der abgewickelten Gelder basierten 2019 auf dem Teilbereich «Digital Commerce». Hierzu zählt Statista den Kauf von Produkten und Dienstleistungen im Internet, die Bezahlung digitaler Medien – Stichwort Streaming – oder Online-Reisebuchungen. Noch geht der deutlich kleinere Teil des Marktes auf «Mobile POS Payments» zurück. Allerdings rechnet die Analystin bei den Smartphone-Zahlungen mit einem überproportionalen Wachstum – bis 2024 könnten sich die Volumen gegenüber 2019 annähernd vervierfachen. Aus regionaler Sicht gibt China den Ton an. Das Reich der Mitte stand 2019 für mehr als 40% der Digital-Payment-Volumen (siehe Grafik). Obwohl Statista dem alten Kontinent sogar ein etwas stärkeres Wachstum zutraut, wird sich an dieser Hackordnung wenig ändern.
Lockdown forciert Umbruch
Generell hängen die Aussichten des Payment-Marktes laut Sofia Zavialova stark davon ab, in welchem Masse die innovativen Systeme die Bezahlung mit Bargeld ablösen können. Hier kommt es ihrer Ansicht nach entscheidend darauf an, wie sich die Konsumenten verhalten respektive, welchen Nutzen diese in den digitalen Geldbörsen (Wallets) sehen. Die Corona-Pandemie könnte das Umdenken beschleunigt haben. Während des Lockdowns erlebte der Internethandel eine Art Sonderkonjunktur. Gleichzeitig forderten stationäre Detailhändler ihre Kunden aus hygienischen Gründen zum kontaktlosen Bezahlen mittels Bank- und Kreditkarte oder Smartphone-App auf. Laut Zavialova geht es für die Payment-Häuser darum, die Services weiterzuentwickeln und auch weniger technologieaffine Konsumenten von den Vorteilen zu überzeugen. Das Vertrauen der Investoren in den Sektor ist trotz Wirecard-Debakel nach wie vor gross. Allerdings lassen sich angesichts der teils ambitionierten Bewertungen nur noch schwer Schnäppchen machen – nach dem starken Rebound der vergangenen Monate eine generelle Herausforderung bei der Aktienanlage.